Barrierefreiheitsstärkungsgesetz: “Ein unausgegorenes Stückwerk”
Interview: Dr. Sigrid Arnade berichtet über ihre öffentlichkeitswirksame Interview-Aktion #MehrBarrierefreiheitWagen und über die Mängel einer Gesetzesvorlage für das “Barrierefreiheitsstärkungsgesetz”, das am 20. Mai 2021 im Bundestag zum Beschluss vorliegen wird.
Mit freundlicher Genehmigung des ISL e. V. / Foto: Franziska Vu
AKDS: Der Deutschlandfunk Kultur hat Sie 2016 in einem Interview als “Behinderten Aktivistin” eingeführt. Sehen Sie sich auch so?
Sigrid Arnade: Ja, ich setze mich seit mittlerweile 35 Jahren für die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen in verschiedenen Lebensbereichen ein. Dabei engagiere ich mich besonders gegen die Benachteiligung behinderter Frauen.
AKDS: Wie würden Sie Ihre Arbeit und Ihre Ziele auf den berühmten Punkt bringen?
Sigrid Arnade: Mir geht es um die Realisierung aller Menschenrechte für alle behinderten Menschen.
AKDS: Sie fahren zurzeit mit dem #MehrBarrierefreiheitWagen quer durch Deutschland und machen Interviews. Wie ist es zu dieser Initiative gekommen und wen haben Sie zum Beispiel befragt?
Sigrid Arnade: Mit meinem Mann, Günter Heiden, bin ich zwischen dem 22. April und dem 9. Mai durch die Republik gefahren. Wir wollten rund um den 5. Mai eine Aktion starten, um das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz zu verbessern. Wir waren in 16 Städten, haben 33 Interviews geführt und sind etwas über 4.000 km gefahren. Dabei haben wir unter anderem acht gegenwärtige und zwei vermutlich zukünftige Bundestagsabgeordnete, fünf Landesbehindertenbeauftragte, den Bundesbehindertenbeauftragten, Schlüsselpersonen von drei Zentren für Selbstbestimmtes Leben, einen Staatssekretär, den Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit und eine Wissenschaftlerin interviewt.
AKDS: Wie lautet ihr bisheriges Resümee Ihrer Interviewaktion?
Sigrid Arnade: Es bestand eine große Bereitschaft, sich mit uns zu treffen und zu unterhalten. Barrierefreiheit finden alle gut. Auffällig war bei den Interviews die hohe Kompetenz der befragten Betroffenen und im Gegensatz dazu eine Haltung des Abwiegelns und Schönredens bei den Befragten aus Regierung und den Koalitionsfraktionen. Letztere verwiesen bei kritischen Nachfragen darauf, dass es sich bei dem gegenwärtigen Barrierefreiheitsstärkungsgesetz nur um einen ersten Schritt handele und man die privaten Anbieter von Waren und Dienstleistungen für Barrierefreiheit vor allem sensibilisieren müsse. Auf die Nachfrage, warum das ausgerechnet jetzt funktionieren solle, obwohl es doch schon in den letzten 30 Jahren nicht geklappt habe, wusste aber auch niemand eine Antwort.
“Beispielsweise müssen Geldautomaten erst 2040, also zwei Jahre nach dem Kohleausstieg, barrierefrei sein.”
AKDS: Der Gesetzentwurf für das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) wurde im März dieses Jahrs vom Bundeskabinett beschlossen. “Es regelt die Barrierefreiheitsanforderungen für bestimmte Produkte und Dienstleistungen und soll Barrieren beim Zugang zu Informationen und Kommunikation beseitigen.” Wenn Sie an Ihre bisherigen Gespräche darüber zurückdenken: Wo liegen die zentralen Kritikpunkte und was leistet der Gesetzentwurf nicht oder was fehlt ihm?
Sigrid Arnade: Die Liste der Kritikpunkte ist lang, deshalb zunächst das Positive: Es werden private Anbieter von Waren und Dienstleistungen zur Barrierefreiheit verpflichtet, allerdings nur punktuell im digitalen Bereich mit viel zu langen Übergangsfristen und viel zu vielen Ausnahmeregelungen und Schlupflöchern. Beispielsweise müssen Geldautomaten erst 2040, also zwei Jahre nach dem Kohleausstieg, barrierefrei sein. Aber selbst dann gibt es noch nicht die Verpflichtung, dass sie auch barrierefrei zugänglich sein müssen. Das bedeutet, dass solche Automaten dann durchaus auf einem Podest stehen dürfen, welches nur über Stufen zu erreichen ist. Bei Banken muss die Software nur im Kundenbereich, nicht aber im Geschäftsbereich barrierefrei sein, was behinderte Mitarbeitende ausschließt. Beim Onlinehandel müssen zwar die Vertragsabschlüsse barrierefrei möglich sein, nicht aber die Bezahlung oder Reklamationen. Die Kontrolle soll 16 Behörden in den 16 Bundesländern übertragen werden. Fast alle Gesprächspartner*innen plädierten für eine zentrale Kontrollbehörde.
Die Liste der Kritikpunkte ließe sich fortsetzen, aber ich denke, es ist schon jetzt deutlich geworden, dass es sich um unausgegorenes Stückwerk handelt. Dieses Gesetz ist die Umsetzung einer EU-Richtlinie. Bereits bei den Verhandlungen zur EU-Richtlinie nahm Deutschland bei den bremsenden Ländern eine zentrale Rolle ein.
AKDS: Wie geht es weiter mit Ihrer Interview-Aktion?
Sigrid Arnade: Die Reise endete am 9. Mai. Am 17. Mai findet die Anhörung vor dem Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales statt. Das Gesetz wird vermutlich am 20. Mai zu später Stunde im Bundestag in zweiter und dritter Lesung beschlossen.
“Bereits bei den Verhandlungen zur EU-Richtlinie nahm Deutschland bei den bremsenden Ländern eine zentrale Rolle ein.”
AKDS: Unser alltägliches Leben hat sich durch Corona mehr oder weniger stark verändert: Wenn Sie in Ihr persönliches oder berufliches Umfeld schauen: Welches sind aktuell die bedeutsamsten Veränderungen?
Sigrid Arnade: Persönliche Begegnungen und Dienstreisen sowie private Reisen haben deutlich abgenommen. Dafür hangelt man sich von einer Videokonferenz zur nächsten. Ich finde es zwar ganz angenehm, nicht für jeden Vortrag durch die halbe Republik reisen zu müssen, andererseits entsteht in der persönlichen Begegnung eine ganz andere Energie, als wenn ich nur zum Bildschirm spreche.
AKDS: Was hat sich durch die Corona-Pandemie in den Selbsthilfe-Vereinen und -verbänden geändert? Welche Stimmung nehmen sie wahr auch mit Blick auf die gegenwärtige Gesundheitspolitik?
Sigrid Arnade: Ich habe es weniger mit Selbsthilfeverbänden, sondern mehr mit Selbstvertretungsorganisationen zu tun. Dort fühlt man sich von der Politik nicht gesehen, sondern im Stich gelassen. Die Gesundheitspolitik agiert, als wenn alle behinderten Menschen in Institutionen wohnen würden. Menschen mit zum Beispiel fortschreitenden Muskelerkrankungen und einem hohen Assistenzbedarf haben ein besonders hohes Risiko, sich zu infizieren und einen schweren Krankheitsverlauf zu erleben. Trotzdem wurden sie beim Impfen nicht priorisiert. Jede und jeder musste sich einzeln eine Impfung erkämpfen.
AKDS: Gibt es eigentlich eine richtige Szene, die sich über das normale Maß für Teilhabe und Barrierefreiheit einsetzt und die sich über die sozialen Medien und regelmäßige Veranstaltungen und Treffen wahrnehmen ließe oder kocht jeder mehr oder weniger sein eigenes Süppchen? Oder anders gefragt: Was könnten oder sollten Vereine und Verbände zur Durchsetzung von Behinderteninteressen mit Blick auf Kooperation und Bündelung von Kräften besser oder anders machen?
Sigrid Arnade: Als besonders engagiert erlebe ich Selbstvertretungsorganisationen, also Verbände, in denen betroffene Menschen selber alle haupt- und ehrenamtlichen Positionen besetzen. Der Deutsche Behindertenrat (DBR) könnte eine laute Stimme für die Betroffenen sein, ist aber meist zu zögerlich. Außerdem fürchten die einzelnen Mitgliedsverbände um ihr eigenes Image, wenn der DBR zu stark wird. Da bleibt ein potentiell scharfes Schwert aufgrund von Verbandseitelkeiten leider ungenutzt.
“Da bleibt ein potentiell scharfes Schwert aufgrund von Verbandseitelkeiten leider ungenutzt.”
AKDS: Seit 2020 wird der Ruf nach einem Mindestlohn in Behindertenwerkstätten zunehmend lauter und in den Filterblasen der sozialen Medien wird das Thema häufig aus der Gerechtigkeitsperspektive mit entsprechenden Empörungsbekundungen diskutiert. Wie nehmen Sie das wahr? Braucht es ein neues “Entgeltsystem” oder muss nicht generell zuerst das “System Werkstatt” reformiert werden?
Sigrid Arnade: Für die behinderten Mitarbeiter*innen in den Werkstätten für behinderte Menschen ist wohl der sehr geringe Verdienst das größte Problem. Deshalb ist es nur zu verständlich, dass der Mindestlohn verlangt wird. Wenn allerdings in den Werkstätten für behinderte Menschen der Mindestlohn gezahlt würde, stünden die Chancen, dieses segregierende System abzuschaffen, noch schlechter als jetzt. Die Werkstätten für behinderte Menschen stehen im Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention, denn sie sind nicht Bestandteil eines inklusiven Arbeitsmarktes. Deshalb hat der UN-Fachausschuss nach der Prüfung Deutschlands 2015 dringend empfohlen, sofort Schritte zu unternehmen, um aus dem Werkstattsystem auszusteigen. Geschehen ist das allerdings nicht. Ganz im Gegenteil sind von Regierungsseite eher Maßnahmen ergriffen worden, um das Werkstattsystem zu stabilisieren.
AKDS: Ein weiteres Thema ist die ungleiche Bezahlung von behinderten Frauen. Spiegel online berichtete erst kürzlich von einer Studie, die zeige, dass Frauen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt weniger als jede andere Gruppe verdiene. Bei gleicher Arbeit! Was erwarten Sie vom Gesetzgeber, um Lohndiskrimierung einzuschränken? Wie können sich betroffene Frauen zur Wehr setzen?
“Wir brauchen einen langen Atem und brennende Ungeduld!”
Sigrid Arnade: Verschiedene Faktoren sind dafür verantwortlich, dass behinderte Frauen das Schlusslicht auf dem Arbeitsmarkt bilden. Oftmals werden nicht behinderte Arbeitnehmer*innen bevorzugt. Wenn diese nicht zur Verfügung stehen, werden eher behinderte Männer als behinderte Frauen eingestellt. Behinderte Frauen haben auch oft schlechtere Qualifikationen, unter anderem, da in Berufsbildungs- und Berufsförderungswerken als qualifizierte Ausbildungsgänge oft nur typische Männerberufe angeboten werden. So gibt es Ausbildungsgänge im holz- oder metallverarbeitenden Gewerbe — verglichen damit finden sich typische Frauenausbildungsberufe im Textilbereich oder in der Hauswirtschaft. Damit kann man nicht viel Geld verdienen. Frauen können häufig nicht Vollzeit arbeiten, wenn sie Kinder haben. Außerdem sind Frauen oft zu bescheiden, wenn es um Gehaltsverhandlungen geht.
Der Gesetzgeber müsste Nachteilsausgleiche unabhängig von der Erwerbstätigkeit gewähren. Bei den Mitarbeiter*innen der Bundesagentur für Arbeit müssten Sensibilisierungstrainings für die Situation von behinderten Frauen angeboten werden. Behinderte Frauen selber müssten durch Empowerment-Trainings gestärkt werden.
AKDS: Zuguterletzt die Frage: Haben Sie noch ein Anliegen, einen Hinweis auf ein spannendes Projekt oder eine Botschaft für unsere Leser*innen?
Sigrid Arnade: Alles zum Barrierefreiheitstärkungsgesetz findet sich unter barrierefreiheitsgesetz.org. Aktuelle Infos zur Behindertenpolitik findet man unter kobinet Nachrichten und unter ISL.
Und das ist meine Botschaft: Wir brauchen einen langen Atem und brennende Ungeduld!
Sigrid Arnade war bis Januar 2020 Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e. V. (ISL) und ist Aktivistin für die Rechte behinderter Menschen. Sie ist promovierte Tierärztin und Mitbegründerin des Deutschen Behindertenrats. Sie arbeitet als Journalistin, Moderatorin und Projektmanagerin.
Portraitfoto: Birgit Massen
Thema: | 19.05.2021 |