Bürgergeld und Sozialleistungen: Mythen und Realität
Seit der Einführung des Bürgergeldes sind Sozial- und Transferleistungen wieder verstärkt im Fokus der öffentlichen Debatte. Besonders der Missbrauch von Leistungen und die vermeintliche „soziale Hängematte“ stehen im Zentrum der Diskussionen. Diese Debatten sind oft von Fehlannahmen und populistischen Falschbehauptungen geprägt. Der Bezug von Sozialleistungen würde demnach z.B. Inaktivität und ein Verharren in der Abhängigkeitssituation bewirken und die Leistungen würden durch ihre leichte Verfügbarkeit oft unrechtmäßig bezogen. Ihre Höhe bedinge fehlende Arbeitsanreize und führe dazu, dass bestehende Arbeitsverhältnisse gekündigt werden. Die Beschränkung der Sanktionspraxis ziehe zudem einen immensen Schaden für den Bundeshaushalt nach sich. Viele dieser Aussagen wurden von verschiedenen Seiten einer Überprüfung unterzogen (z.B. IFO; IAB; ZDF) und als unzutreffend beurteilt. Dennoch prägen sie weiterhin die öffentliche Meinung und scheinen in politischen, medialen und Alltagsdiskursen einen fruchtbaren Resonanzboden zu finden. Zwei der am häufigsten vorgebrachten Behauptungen sind der vermeintliche „Missbrauch“ von Sozialleistungen, sowie das Bild der „sozialen Hängematte“.
Der Missbrauch von Sozialleistungen wird häufig durch anekdotische Einzelfälle untermauert und als moralisch verwerflich dargestellt. Verschiedene Institutionen wie der Zoll und die Bundesagentur für Arbeit überwachen die Rechtmäßigkeit von Leistungsbezügen. Im Jahr 2022 wurden rund 119.000 Fälle von Missbrauch oder Verdacht auf Missbrauch dokumentiert, was einer Missbrauchsquote von etwa vier Prozent entspricht. Oft wird übersehen, dass viele Menschen trotz Bedürftigkeit keine Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Schätzungen zufolge betrifft dies etwa 60 Prozent der Haushalte bei der Grundsicherung im Alter und über ein Drittel beim Arbeitslosengeld II. Gründe hierfür sind unter anderem bürokratische Hürden, Missverständnisse und Ängste vor Veränderungen.
Es gibt zahlreiche Hürden, die eine Beantragung von Sozialleistungen verhindern. Dazu gehören persönliche Kosten, Unsicherheiten bezüglich der Anspruchsberechtigung und physische oder sprachliche Barrieren. Viele Menschen scheitern an bürokratischen Anforderungen oder haben negative Erfahrungen mit der Sozialverwaltung gemacht. Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Sozialleistungen spielt eine große Rolle. Oft werden Sozialleistungen als illegitim angesehen, was dazu führt, dass viele Menschen ihren Anspruch nicht geltend machen. Diese Wahrnehmungen sind tief in den gesellschaftlich-moralischen Strukturen verankert und beeinflussen das Verhalten der potenziellen Leistungsempfänger.
Zugrunde liegt bei den interviewten Personen mehrheitlich ein Verständnis von Bedürftigkeit, das unter anderem durch das gesellschaftliche Ideal der Eigenverantwortung sowie durch das Aktivitäts- und Mitwirkungsparadigma der Sozialpolitik geprägt wurde. Demnach gilt individuelle Bedürftigkeit als grundsätzlich durch ausreichend Eigeninitiative und Selbstverantwortlichkeit und zum Wohle der Gesamtgesellschaft „vermeidbar“ und „überwindbar“. In diesem Verständnis ist Bedürftigkeit eine Eigenschaft, die administrativ festgestellt werden muss, sie ist Gegenstand der Arbeit von Professionellen, wird durchgerechnet, vermessen, normativ an Vergleichsgruppen ausgerichtet und statistisch manifestiert. Durch ein weit ausdifferenziertes institutionelles Gefüge wird sie an die Bevölkerung vermittelt. Als genuin menschliche Eigenschaft tritt Bedürftigkeit auf diese Weise in den Hintergrund und es entsteht ein kontinuierliches Spannungsfeld zweier entgegengesetzter Verständnisse. Würde Bedürftigkeit als anthropologische Konstante anerkannt, ginge damit ein existenzielles Angewiesensein einher. Wird sie jedoch als soziale Kategorie verstanden, die durch eigenverantwortliches Handeln verändert werden kann, rückt die natürliche Abhängigkeit hinter das Prinzip der Selbstverantwortlichkeit zurück. Während ersteres Verständnis noch eher eine Anspruchsberechtigung auf Sozialleistungen im Sinne eines Menschenrechts impliziert, weist zweiteres die Entgegennahme sozialstaatlicher Hilfen als Praxis aus, die zu Lasten aller anderen geht. Wahrhaftig bedürftig sind hier nur die Personen, die nicht arbeitsfähig sind, wobei auch hier zunehmend Einschränkungen gemacht werden.
Die überpräsente Thematisierung des Missbrauchs von Sozialleistungen und die Stigmatisierung der Inanspruchnahme durch das Bild der sozialen Hängematte knüpft an hergebrachte und neue Negativbilder an und beeinflusst das Ausmaß ihrer Annehmbarkeit und Akzeptabilität. Aus der Genese des Bedürftigkeitsbegriffs lässt sich auf einen Teil des erwähnten Resonanzbodens schließen, auf dem sich diese Behauptungen nachhaltig halten können. Überdauernd stabil ist dabei insbesondere die Aufsplittung der Armutsbetroffenen in würdige und unwürdige Arme. Irreführende oder skandalisierende Medienberichterstattungen und politische Instrumentalisierung trifft hier auf eine vorhandene Empfänglichkeit für einfache Erklärungen komplexer sozioökonomischer Probleme und lenkt von strukturellen Ursachen oder finanziell schadhafteren Problemen (wie z.B. Steuerhinterziehung) ab.
Indem Bedürftigkeit als nicht normal stigmatisiert wird, wird gleichzeitig die vermeintlich nicht-bedürftige Mehrheitsgesellschaft sukzessive von der Last befreit, sich mit Fragen der eigenen natürlichen Verletzbarkeit und die der anderen zu beschäftigen. So ist zu vermuten, dass schon das Zugeständnis von Bedürftigkeit an sich selbst und die Ausbildung der Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, mit Belastungen und Denormalisierungsängsten verbunden ist. Die Verbreitung und Aufnahme von diskreditierenden Narrativen gegenüber Armutsbetroffenen, wie sie aktuell wieder vermehrt strategisch in der politischen Kommunikation platziert wird, kann so als Distinktionsstrategie gelesen werden. So wird gewissermaßen mikrowirksam die gesellschaftliche Unterstützung für Sicherungssysteme geschwächt und eine zögerliche Haltung zur Inanspruchnahme gefördert, wodurch letztlich nicht nur das Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen Schaden nehmen kann, sondern auch die Beförderung einer gerechten und solidarischen Gesellschaft unterminiert wird. Statt diese Hebel zu bedienen, sollten die leistungsübergreifend niedrigen Missbrauchsquoten lieber als Ansporn genutzt werden, um den Schutz und die Unterstützung für Armutsbetroffene nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern aktiv zu fördern.
Quelle: http://www.wsi.de
Thema: Informationen | 29.08.2024 |