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10.08.2020

Covid-19: Keine höhere Sterberate bei Erkrankten mit geistiger Behinderung

In der öffentlichen und medialen Debatte um Infektionsrisiken einerseits und politische Entscheidungen zu angemessenen Vorkehrungen gegen die (erneute) Ausbreitung der Corona-Pandemie spielen bisher Menschen mit (geistiger) Behinderung kaum eine Rolle. Fachverbände und Selbstvertretungsverbände müssen sich immer wieder dafür einsetzen, dass diese Personengruppe mit ihren legitimen Ansprüchen wahrgenommen wird. In vielen Verfügungen werden Menschen mit Behinderungen in Wohneinrichtungen gemeinsam mit Bewohner/innen von Altenpflegeheimen genannt. Bei den Vorkehrungen gegen die Ausbreitung von Infektionen in Heimen wird kaum zwischen den Personengruppen und Einrichtungsarten unterschieden. Diese Gleichsetzung ist – so zeigen ersten Studien zu Infektions- und Sterberaten bei Menschen mit geistiger Behinderung aus dem internationalen Raum – der Realität nicht angemessen.

Die ersten Ergebnisse dreier Studien zu COVID-19 Erkrankungen bei Menschen mit geistiger Behinderung liegen aus den USA, aus den Niederlanden und Schweden vor. Sie zeigen übereinstimmend, dass sich der Prozentanteil von Todesfällen bei an COVID-19 Erkrankten mit geistiger Behinderung nicht unterscheidet von dem Prozentanteil in der Gesamtbevölkerung. Die Altersstrukturen der Verstorbenen weisen jedoch in einer US-amerikanischen Studie aus diesem Jahr deutliche Unterschiede auf. Und COVID-19 Erkrankte mit geistiger Behinderung haben häufiger Erkrankungen, die als Risiken für schwere Verläufe gelten (z. B. Atemwegserkrankungen, Diabetes, Adipositas, Herzfehler), als Patient/innen ohne geistige Behinderung.

Die genannte US-amerikanische Studie greift auf eine für wissenschaftliche Zwecke zusammengestellte Datenbank von 42 akademisch orientierten Gesundheitsorganisationen (Krankenhäusern, Ambulanzen, therapeutischen Zentren) in den USA zurück. Verglichen werden Daten von 474 COVID-19 Patient/innen mit geistiger Behinderung und 29.809 Patient/innen ohne eine solche Diagnose (Stichtag 14. Mai 2020). Die Sterberate bei Patient/innen mit geistiger Behinderung liegt bei 5,1 %, die bei Menschen ohne geistige Behinderung bei 5,4 %. Während jedoch 1,7 % der unter 18-jährigen Patient/innen mit geistiger Behinderung sterben, sind es bei Kindern und Jugendlichen ohne geistige Behinderung nur 0,1 %. Von den 75-jährigen und älteren Patient/innen stirbt in beiden Gruppen jede/r fünfte. Die Sterberate bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung zwischen 18 und 74 Jahren liegt bei 4,5 %, bei der gleichen Altersgruppe ohne geistige Behinderung bei 2,7 %. Dass Menschen mit geistiger Behinderung früher sterben, hängt sehr wahrscheinlich zusammen mit ihrer insgesamt um mindestens zwölf Jahre geringeren durchschnittlichen Lebenserwartung und einer früher einsetzenden Gebrechlichkeit. Bei Kindern und Jugendlichen dürfte die Kombination von körperlichen und kognitiven Beeinträchtigungen in Verbindung mit syndromspezifischen zusätzlichen oder begleitenden Erkrankungen zu höheren Sterberaten führen. Die Studie zeigt auch einen erhöhten Anteil von Atemwegserkrankungen, Stoffwechselerkrankungen (z. B. Diabetes), Adipositas und Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei COVID-19-Patienten mit geistiger Behinderung im Vergleich zur Gesamtbevölkerung.

Die niederländische Studie des medizinischen Zentrums der Radboud Universität in Nijmwegen aus diesem Jahr beruht auf einem Registrierungssystem eines wissenschaftlichen Netzwerks, an dem 66 Organisationen der Behindertenhilfe in den Niederlanden beteiligt sind. Bis Ende Mai sind 420 der 1.000 registrierten Patient/innen mit geistiger Behinderung positiv auf COVID 19 getestet worden. 61 % von ihnen sind zwischen 40 und 69 Jahre alt. 90 % von ihnen leben in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe, nur 10 % in ihrer eigenen Wohnung. 52 Patient/innen mit COVID-19-Infektion sind verstorben. Die Sterberate der COVID-19 Erkrankten liegt bei 13 %, was der Sterberate der an COVID-19 Erkrankten in der niederländischen Gesamtbevölkerung zu diesem Zeitpunkt entspricht.

Das in der US-Studie zitierte schwedische National Board of Health and Welfare berichtet für Schweden eine Sterberate von 7,7 % bei Patient/innen mit geistiger Behinderung, die staatliche Wohndienste in Anspruch nehmen. In der schwedischen Gesamtbevölkerung beträgt die Sterberate zum gleichen Zeitpunkt (11. Mai 2020) 12,7 % bei COVID-19 Patient/innen.

Diese Zwischenergebnisse der z. T. fortlaufenden Studien deuten entgegen der Erwartung darauf hin, dass das Sterberisiko bei einer COVID-19-Infektion generell bei Menschen mit geistiger Behinderung nicht sehr viel höher ist als in der Gesamtbevölkerung. Das Risiko ist anders einzuschätzen als bei hochaltrigen Menschen in Altenpflegeheimen. Das spricht insbesondere dafür, deutlicher als bisher zwischen Einrichtungen und Diensten der Behindertenhilfe und Altenpflegeeinrichtungen bei der Abschätzung gesundheitlicher Risiken zu unterscheiden. Da viele Menschen mit geistiger Behinderung auch nicht zu den Risikogruppen gehören, sollte auch bei den Maßnahmen deutlicher als bisher unterschieden werden. Insbesondere müssten Maßnahmen zur Begrenzung des Infektionsrisikos deutlich differenzierter auf der Basis individueller Risikoabschätzungen getroffen werden - unter Abwägung der berechtigten Bedürfnisse nach Kontakt und gemeinsamer Zeit mit den engsten Vertrauenspersonen einerseits und dem Recht auf Teilhabe in allen Lebensbereichen, wie es anderen Bürger/innen, die nicht in Wohnheimen leben, trotz vieler Einschränkungen, die alle gleichermaßen betreffen, dennoch in bestimmten Bereichen zugestanden wird.

Zudem zeigen die Studien, wie hilfreich Erfahrungen und genau beschriebene Beobachtungen sein können, um weitreichende politische Entscheidungen zu flankieren. Dies könnte auch in Deutschland deutlicher der Fall sein, etwa indem die im Gesundheitssystem und bei den kommunalen und regionalen Stellen vorhandenen Daten in Bezug auf COVID-19-Patient/innen mit Behinderung zusammengeführt bzw. Behinderungen der Erkrankten, Verstorbenen und Genesenen überhaupt mit erhoben würden. Hier bedarf es differenzierter Forschungsaktivitäten, die Menschen mit Behinderungen in den Blick nehmen, sowohl in Bezug auf Infektionsrisiken als auch in Bezug auf die psychosozialen Folgen drastischer Kontaktbeschränkungen.

Der Elternverband fordert die Einrichtungen der Behindertenhilfe auf, die Ergebnisse der Studien kurzfristig in die eigenen Hygienekonzepte einzubeziehen. Insbesondere bei den Kontaktbeschränkungen ist eine größere Bereitschaft zu differenzieren geboten.

Bei Fragen vermittelt die Geschäftsstelle gerne Kontakt zu den Forscher/innen. Schreiben Sie an .(Javascript muss aktiviert sein, um diese Email-Adresse zu sehen)

Thema: Informationen | 10.08.2020 |

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