Dieser Tod ist keine Erlösung
Vier Menschen mit einer Behinderung wurden in einem Potsdamer Wohnheim, in dem sie seit Langem lebten, getötet. Eine weitere Bewohnerin überlebte schwer verletzt. Als dringend tatverdächtig gilt eine Pflegerin, die in dem Wohnheim gearbeitet hat. Über die Opfer, die im Alter zwischen 31 bis 56 Jahren gewesen sein sollen, wurde wenig bekannt.
Die Autorin Julia Latscha
»Eine Woche lang finde ich keine Worte und keine Sprache«, schreibt Julia Latscha, Autorin und Aktivistin für Vielfalt und Inklusion, in einem Bericht für die Zeit Online, den wir hier in etwas gekürzter Form veröffentlichen.
Noch liegen die Gründe der Gräueltat im Dunkeln. Mit Spekulationen wie Überforderung und Überlastung werden Erklärungen gesucht, von Personalmangel und schlechter Bezahlung ist die Rede. Der Polizeipsychologe Dr. Gerd Reimann nannte im rbb sogar »eine Motivation, die Leute zu erlösen, von Leiden, die vielleicht unheilbar sind«, als einen möglichen Grund für die Tat.
Solche Mutmaßungen werden in der Verdachtsberichterstattung anscheinend nicht als abwegig empfunden, bei systemischen Deutungen wird dagegen Zurückhaltung angesichts des ungeklärten Einzelfalls angemahnt. Mir geht es aber darum, dass auch eine einzelne Tat, von deren konkreten Hintergründen wir noch wenig wissen, nicht nur als individuelles Verbrechen gelesen werden kann, sondern als mögliche Konsequenz der Verweigerung von Inklusion – als mögliche Konsequenz des Sondersystems, das an sich ein Fehler ist.
Geschlossene Systeme kollabieren irgendwann
Sondersysteme sind meist geschlossene Welten, in denen gelernt, gelebt und gearbeitet wird, abgeschottet von dem anderen Leben, dem der Mehrheitsgesellschaft. »Geschlossene Systeme kollabieren irgendwann«, sagte mir eine Psychiaterin, als unsere Familie auseinanderbrach und meine Tochter in ein Wohnheim ziehen musste. Unser Kleinfamiliensystem ließ sich nicht ausreichend öffnen.
Wir bekamen zu wenig fachliche Hilfe und professionelle Unterstützung. Seit zwei Jahren lebt meine Tochter in einem Wohnheim für Kinder und Jugendliche mit Behinderung. Ich bin Nutznießerin der exkludierenden Struktur und gleichzeitig Autorin und Aktivistin für Inklusion. Mit diesem Widerspruch muss ich schon länger leben.
2009 trat in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft. In Artikel 16 verpflichteten sich die Konventionsstaaten, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen vor jeder Form von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch, einschließlich ihrer geschlechtsspezifischen Aspekte, zu schützen. Inklusion ist nicht nur ein Menschenrecht, sondern auch eine präventive Maßnahme gegen Gewalt und Diskriminierung.
Gewaltvolle Übergriffe auf Menschen mit Behinderung sind kein Einzelfall. Immer wieder kommt es in Pflege- und Wohnheimen für Menschen mit Behinderungen zu Gewalt, Missbrauch und Diskriminierung. Eine 2012 vom Bundesfamilienministerium in Auftrag gegebene repräsentative Studie zeigt: Frauen mit Behinderung erfahren in der Kindheit oder Jugend sexualisierte Gewalt zwei- bis dreimal häufiger als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt. Im Erwachsenenalter sind sie sogar fast doppelt so häufig von körperlicher Gewalt betroffen.
Was passiert im Verborgenen?
Meine größte Angst ist, dass es meiner Tochter nicht gut gehen könnte. Sechzehn Jahre habe ich die Hand über sie gehalten. Sie gestärkt und vor behindertenfeindlichen Angriffen beschützt. Viele Jahre habe ich gesucht und gekämpft, um eine inklusive Wohnmöglichkeit für sie zu finden oder selbst zu gründen. Das ist mir bisher nicht gelungen. Ich lege meinen Finger in eine Wunde, die ich selbst bluten lasse. Aus Mangel an Alternativen. Meine Tochter musste ausziehen, obwohl sie das nicht wollte, weil ich nicht mehr konnte. Heute ist sie achtzehn Jahre alt, hat die Förderschule beendet und besucht von Montag bis Freitag eine Fördergruppe zur Beschäftigung. Und sie lebt in ihrem neuen Zuhause, in dem sie sich wohl fühlt. An den Wochenenden pendelt sie zwischen den Welten und kommt uns besuchen. Jetzt ist sie achtzehn Jahre alt und im nächsten Jahr steht ein Umzug in eine Wohnform für erwachsene Menschen mit Behinderung an.
Menschen wie meine Tochter erleben tägliche Übergriffe und Gewalt auf verschiedenen Ebenen, die nicht allein auf den Pflegenotstand zurückzuführen sind, sondern auf das geschlossene Abhängigkeitssystem der Sonderwelt. Vieles passiert im Verborgenen, weil es genau dort möglich ist, weil zu wenige Kontakt- und Berührungspunkte nach außen bestehen, weil zu wenig Informationen an die Ohren der Öffentlichkeit dringen. Weil manche Pflegebedürftige oder Menschen mit Behinderungen sich nicht wehren können, weil sie keine Lobby haben und wie Menschen zweiter
Klasse behandelt werden. Meine Tochter scheint ein gutes Leben im Wohnheim und der Fördergruppe zu haben. Sie freut sich, wenn ich sie dorthin bringe.
Als wäre »Erlösung« ein milderndes Tatmotiv
Aber geht es ihr wirklich gut? Sie kann nicht sprechen, mir keine Nachrichten schicken und auch dem grimmigen Fahrdienst nicht mit der Berliner Schnauze kontern. Seit Corona dürfen wir Eltern die Wohngruppe nicht mehr betreten. Ich kenne weder ihre aktuellen Mitbewohner*innen noch alle Menschen, die dort zurzeit arbeiten. Meine Tochter ist darauf angewiesen, an gute, offene, stärkende und liebevolle Menschen zu geraten, die ihr wohlgesonnen sind und ihr Leben als lebenswert betrachten.
Und gleichzeitig wird nun die Erlösung von Leiden als eine Erklärung der Potsdamer Tat in Betracht gezogen. Dass solch eine Erklärung überhaupt im Raum steht und so positiv formuliert wird, als wäre »Erlösung« ein milderndes Tatmotiv, zeigt, was der Ableismus in unserer Gesellschaft leistet. Ein Leben scheint nur dann wertvoll zu sein, wenn ein Mensch ohne Behinderung einem Leben mit Behinderung einen Wert gibt. Wenn er es aber auslöscht, kann das immerhin »gut gemeint« gewesen sein. Meine Tochter sitzt im Rollstuhl, sie ist auf permanente Hilfe angewiesen und glücklich.
Was sie ärgert, ist der Stress, die Überforderung all derer, die mit ihrer Behinderung nicht umgehen können oder wollen. Menschen mit Behinderungen müssen nicht von ihrem Leid erlöst werden, sondern von dem Leid, das Menschen verursachen, die ihnen ein gutes und selbstbestimmtes Leben wegen ihrer körperlichen oder mentalen Einschränkungen verwehren. Sie sollten unbedingt erlöst werden, und zwar von Diskriminierungen, Übergriffen und Gewalt aller Art, um ein sicheres, selbstsicheres und langes Leben führen zu können. Sie sollten von Politiker*innen erlöst werden, die die Sondersysteme weiterhin auf- und ausbauen, die ein inklusives Bildungssystem verhindern und damit eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für viele Menschen mit Behinderungen blockieren. Sie sollten befreit werden von Menschen ohne Behinderungen, die Menschen mit Behinderungen nicht zu Wort kommen lassen und denken, dass ihre Perspektive eine allwissende sei.
Lesen Sie den vollständigen Bericht auf Zeit Online:
“Dieser Tod ist keine Erlösung“
Thema: Informationen | 28.06.2021 |