Beratungstelefon: 0521 - 442998

25.03.2021

Gesundheitspolitische Forderungen

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) fordert eine entschlossene Digitalisierung. „Wir begrüßen, dass in dieser Legislaturperiode – nach viel zu vielen Jahren des Stillstands – in Deutschland viele Dinge auf den Weg gebracht wurden”, sagte gestern der Vorsitzende Ferdinand Gerlach, als er in Berlin das neue SVR-Gutachten „Digitalisierung für Gesundheit, Ziele und Rahmenbedingungen eines dynamisch lernenden Gesundheitssystems“ vorstellte. „Aber wir wünschen uns an einigen Stellen mehr Entschlossenheit.“ Der Rat empfehle daher eine nachhaltige Strategie zur Digitalisierung des Gesundheitswesens. „Ziel der digitalen Weiterentwicklung ist, so unser Vorschlag, ein dynamisch lernendes Gesundheitssystem“, so Gerlach, der auch als Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main fungiert.

Auf 394 Seiten beschreiben die Gesundheitsweisen jede Menge Handlungsbedarf – etwa bei der elektronischen Patientenakte (ePA). Im Moment sei es so, dass Patient:innen selbst auf die Idee kommen müssten, eine ePA zu beantragen, so Petra Thürmann, Direktorin des Philipp Klee-Instituts für Pharmakologie am Helios Universitätsklinikum Wuppertal. „Bei jedem Arztbesuch muss der Leistungserbringer immer wieder ermächtigt werden hineinzuschauen und aufgefordert werden, die Behandlungsdaten in die ePA zu übertragen“, klagte sie. „Aus unserer Sicht ist dies viel zu kompliziert.“

ePA: „Opt-Out-Verfahren“ für mehr Nutzung

Der SVR hält ein „Opt-Out-Verfahren“ für den „deutlich sinnvolleren“ Weg. Von Geburt an oder mit Zuzug nach Deutschland bekäme demnach jeder Bürger und jede Bürgerin automatisch eine elektronische Patientenakte. Und: Jede:r Behandler:in wäre automatisch berechtigt und verpflichtet, Patientendaten einzustellen. Sei dies dem Nutzer zu viel, könne er bestimmte Inhalte ausblenden – der SVR nennt dies „verschatten“. Der Sachverständigenrat sei sich darüber „im Klaren, dass so eine Lösung derzeit in Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern nicht konsensfähig ist“, sagte Thürmann, die auch den Lehrstuhl für Klinische Pharmakologie an der Universität Witten/Herdecke innehat.

Das Expertengremium befürchtet, dass die Leistungserbringer die ePA mit den aktuellen Regelungen „zu selten nutzen dürfen und müssen“, dadurch „einzelne Akten löchrig werden“ und auf diese Weise nicht als „zuverlässige Informationsquelle zwischen den Leistungserbringern“ funktionieren. „Mit so vielen Einwilligungs-Hindernissen wird die ePA nicht fliegen“, sagte auch Gerlach. Seit Beginn des Jahres können mehr als 73 Millionen gesetzlich Versicherte die ePA bei ihrer Krankenkasse beantragen. Ab 2022 sollen neben Untersuchungsdaten auch Medikamentenpläne, der Impfpass, das Kinderuntersuchungsheft, der Mutterpass oder auch das Zahnbonusheft in die ePA gespeichert werden.

Dem Sachverständigenrat sei auch der Punkt „digitale Gesundheitskompetenz“ sehr wichtig, betonte Thürmann. Neben den Krankenkassen und Ärzten sieht der Rat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in der Pflicht, „richtige Kampagnen“ für die Bürger zur Aufklärung über den Nutzen der ePA zu fahren.

Zudem rät der Sachverständigenrat, die Daten besser für die Forschung zu nutzen. „Wenn ein Mensch ein Gesundheitswesen in Anspruch nehmen kann, dann sollten seine Daten automatisch der gemeinwohldienlichen Forschung zur Verfügung gestellt werden“, so Thürmann. Die heute seitens der Kassen verfügbaren Daten, die für Berechnungen genutzt werden könnten, hätten zu viele Limitationen. In vielen anderen EU-Ländern seien sehr schnelle Analysen zur Arzneimittelsicherheit möglich, „die wir gar nicht machen können“, so die Arzneimittelexpertin, die auch auf den Nutzen „ordentlicher Gesundheitsakten und elektronischer Verfügbarkeit“ in der Pandemie – etwa bei der Entwicklung zielgruppenorientierter Impfstrategien – hervorhob.

Braucht es ein Gesundheitsdaten-Nutzungsgesetz?

Natürlich adressierte der Sachverständigenrat auch das, gerade im Zusammenhang mit der ePA, kontroverse Dauerthema Datenschutz. Dieser sollte in Deutschland im Sinne eines umfassenden Patientenschutzes neu gedacht werden, so die Experten. Die alte Maxime unbedingter Datensparsamkeit und strenger Zweckbindung sei durch maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz von der Realität überholt worden, sagte Gerlach. Das hatte zuvor bereits der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme Big Data und Gesundheit festgestellt.

Vorrangige Norm muss laut SVR die Datensicherheit werden – in Verbindung mit einem Konzept aktiver Datennutzung und empfindlicher strafrechtlicher Sanktionen „für diejenigen, welche die von der Rechts- und Solidargemeinschaft gezogenen Grenzen überschreiten oder dies auch nur versuchen“, so Gerlach. „In Deutschland sehen wir immer erst das Problem oder Risiko, aber sehr wenig den Nutzen der Daten im Sinne des Patientenwohls.“ Es müsse eine neue Balance gefunden werden.

Der SVR empfiehlt daher in seinem Gutachten die Prüfung, ob der Gesetzgeber eine Befugnisnorm einführen könnte, also eine Art Gesundheitsdatennutzungsgesetz, in dem genau geregelt werde, welche Daten wie genutzt werden können und sollen. Im europäischen Vergleich, wo alle die Datenschutzgrundverordnung einhalten müssten, habe sich gezeigt, dass Deutschland „rückständig“ sei und „wir unsere Daten viel zu wenig nutzen“. In der anhaltenden Pandemie hätte Deutschland an vielen Stellen – etwa bei der Impfstrategie, der Aufklärung von Kontakten und der Unterdigitalisierung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes – bessere Daten gebrauchen können, so der SVR-Vorsitzende.

Kurzlink dieses Beitrags: https://cutt.ly/ux54ZLg

Thema: Informationen | 25.03.2021 |

↑   Zum Seitenanfang   ↑

Termine 2025