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30.03.2021

Israels entspannter Umgang mit Patientendaten

Was deutsche Datenschützer in Aufregung versetzt, gilt in Israel als Selbstverständlichkeit: Vor 26 Jahren schon haben Krankenkassen dort begonnen, sämtliche Patientendaten in digitale Datenbanken zu übertragen. Nun sollen davon nicht nur Forscher, sondern auch ausgewählte High-Tech-Firmen profitieren. Bedenken gibt es wenig.

Illustratives Bild

Foto: Pixabay / StockSnap

Es ist das Jahr 2021, und Deutschland debattiert über die elektronische Patientenakte. Zwar müssen gesetzliche Krankenkassen die sogenannte ePA seit Anfang des Jahres anbieten. Doch für manche ist das kein Grund zur Freude. Sollte er jemals einen schweren Unfall haben, sagte vor kurzem der Arzt Christian Brodowski in einem Interview mit der „Zeit“, so sei es ihm lieber, er habe seine „Notfalldaten auf einem Zettel im Portemonnaie“ bei sich, anstatt dass der behandelte Notfallarzt seine Gesundheitsdaten aus einer digitalen Akte abrufen könne.

Von Israel aus klingt die Debatte sonderbar anachronistisch. Was deutsche Datenschützer in Aufregung versetzt, gilt dort als Selbstverständlichkeit: Israels größte Krankenkasse Clalit begann bereits vor 26 Jahren damit, sämtliche Krankendaten ihrer Patienten in digitale Datenbanken zu übertragen. Die anderen drei Krankenkassen des Landes taten es ihr gleich. Heute hat jeder israelische Bürger eine digitale Patientenakte, in der sämtliche Arztbesuche, Krankenhausaufenthalte, Diagnosen und Testergebnisse erfasst sind. Mit einem Mausklick kann sich der Hausarzt oder die Hausärztin einen Überblick darüber verschaffen, welche Medikamente ihr Patient derzeit einnimmt, welche Allergien er hat, wann er zum letzten Mal beim Orthopäden war und wie sein letzter Bluttest ausgefallen ist. Der Patient oder die Patientin wiederum kann über die App der Krankenkasse Termine buchen und absagen, Rezepte und Überweisungen anfordern, Testergebnisse herunterladen und Nachrichten an seine behandelnden Ärzt:innen schicken.

Hausärzte als Fallmanager

Wer die Krankenkasse wechseln will, kann seine digitale Patientenakte mitnehmen. Doch nur der Hausarzt oder die Hausärztin hat Zugriff auf die gesamte Krankheitsgeschichte. „Der Hausarzt ist nicht nur Arzt, sondern auch der Fallmanager des Patienten“, erklärt Doron Netzer, der die medizinische Abteilung der Clalit-Krankenkasse leitet. Auf Wunsch könne ein Patient besonders sensible Daten wie beispielsweise Berichte eines Psychiaters oder einer Psychiaterin auch verbergen.

Bedenken im Hinblick auf Privatsphäre und der Datensicherheit hegt der Arzt nicht. Die Patientendatenbanken, sagt er, unterlägen höchst strengen Vorgaben des israelischen Gesundheitsministeriums. Dessen Vertreter überprüften die Sicherheit der Datenbanken und -weitergabe außerdem regelmäßig. Und während in Deutschland längst nicht jeder von Sinn und Zweck digitaler Patientenakten überzeugt ist, zeigten Vertreter anderer Staaten und ausländischer Krankenkassen reges Interesse an der israelischen Technologie hinter den Datenbanken, berichtet Netzer.

Algorithmen zur Früherkennung von Krankheiten

Ihren gewaltigen Datenschatz nutzen die Krankenkassen außerdem zu Forschungszwecken. Sowohl Clalit, die größte Krankenkasse des Landes, als auch Maccabi, die zweitgrößte, unterhalten eigene Forschungsinstitute. Beide Krankenkassen haben in den vergangenen Wochen erste Studien veröffentlicht, welche die Wirksamkeit des Pfizer-Impfstoffs gegen Covid-19, den Israel bislang vorwiegend einsetzt, bestätigen. Die Effizienzrate, die beide Institute ermittelt haben, liegt nahe an den 95 Prozent, die der Hersteller basierend auf klinischen Studien im Vorfeld versprochen hatte.

Die Krankenkassen forschen aber auch zu etlichen anderen Themen. Anhand der Daten, die zu diesem Zweck anonymisiert werden, entwickeln ihre Forscher beispielsweise Algorithmen, die bei der Früherkennung von Krankheiten helfen sollen. Auf diese Weise gelang es der Krankenkasse Maccabi etwa, eine Methode zu erfinden, Patienten mit erhöhtem Risiko für Darmkrebs zu identifizieren – ohne dass diese Menschen sich selbst auf Darmkrebs hätten untersuchen lassen.

Datenschatz auch für High-Tech-Firmen

Die israelische Regierung will noch weitergehen: Wie 2018 in ihrem „nationalen digitalen Gesundheitsplan“ festgeschrieben, will sie die Gesundheitsdaten sämtlicher Bürger in anonymisierter Form in einer einzigen Datenbank speichern. Umgerechnet 250 Millionen Euro stellt sie für das Projekt bereit. Zugang zu diesen Daten sollen nicht nur Forscher erhalten, sondern pikanterweise auch ausgewählte High-Tech-Firmen im Medizinbereich, die mithilfe solcher Daten ihre Produkte entwickeln oder verbessern können. Es ist dieser Punkt, der Datenschützern besonders sauer aufstößt. Eine umfassende Anonymisierung derart umfangreicher Patientendaten sei kaum möglich, warnt etwa die Juristin Tehilla Shwartz Altshuler, Forscherin am Israel Democracy Institute, einem liberalen Think Tank, sowie Vorstandsmitglied der Nichtregierungsorganisation Bewegung für digitale Rechte.

Im öffentlichen Diskurs spielen Datenschutz und Privatsphäre in Israel jedoch eine weit geringere Rolle als in Deutschland. Zugleich herrscht größerer Optimismus im Hinblick auf neue Technologien – und in Industrie- und Regierungskreisen ein starker Ehrgeiz, Israel auch mit Hilfe seines digitalen Datenschatzes als Spitzenstandort für High-Tech-Firmen zu positionieren. „Wenn wir diese Vision realisieren“, sagte der damalige Generaldirektor des Gesundheitsministeriums, Moshe Bar Siman-Tov, bei der Vorstellung des nationalen digitalen Gesundheitsplans, „werden wir Israel und das israelische Gesundheitssystem komplett neu verorten.“

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Thema: Informationen | 30.03.2021 |

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