Sozialstaatsreform muss Sonderstrukturen überwinden und Inklusion finanzieren
Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. kritisiert die anhaltende Finanzierung segregierender Strukturen für Menschen mit Behinderungen und fordert eine grundlegende Reform des Sozialstaates. Unter dem Motto „Sozialstaatsreform ohne Inklusion ist Etikettenschwindel“ macht die ISL deutlich: Während die Bundesregierung über Einsparungen diskutiert, fließen jährlich bis zu 23,4 Milliarden Euro in Sonderstrukturen wie Förderschulen, Werkstätten für behinderte Menschen und stationäre Wohnformen, die Menschen systematisch ausgrenzen.
Die Zahlen zeigen das Ausmaß: Rund 8,54 Milliarden Euro werden in Förderschulen investiert, in denen 77 Prozent der Schüler*innen ohne Abschluss bleiben. Werkstätten kosten etwa 5,59 Milliarden Euro jährlich, wobei Ende 2023 rund 270.000 Menschen für durchschnittlich 224 Euro im Monat beschäftigt waren und weniger als ein Prozent der Beschäftigten auf den ersten Arbeitsmarkt vermittelt wurden. Für stationäre Wohnformen werden weitere 9,29 Milliarden Euro ausgegeben, in denen über 190.000 Menschen leben müssen.
Thomas Koritz, Geschäftsführer der ISL, kritisiert: „Es ist ein Skandal, dass von Sparmaßnahmen im Sozialbereich gesprochen wird, während Milliarden in menschenrechtswidrige Parallelstrukturen fließen. Diese Gelder könnten transformativ eingesetzt werden – für inklusive Schulen, unterstützte Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt und selbstbestimmtes Wohnen mit persönlicher Assistenz.“
Die Kritik der ISL stützt sich auf die zweite Staatenprüfung durch den UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen im August 2023. In den abschließenden Bemerkungen wurde Deutschland aufgefordert, einen zeitgebundenen Aktionsplan zur vollständigen schulischen Inklusion vorzulegen, eine verbindliche Ausstiegsstrategie aus dem Werkstättensystem zu entwickeln und eine bundesweite Deinstitutionalisierungsstrategie umzusetzen. Der UN-Ausschuss machte klar, dass Segregation in Bildung, Arbeit und Wohnen menschenrechtswidrig ist.
Internationale Erfahrungen zeigen zudem: Die Transformation zu inklusiven Strukturen ist nicht nur ein Menschenrechtsgebot, sondern auch wirtschaftlich sinnvoll. Im Wohnbereich liegt der Kostenunterschied zwischen stationären Einrichtungen (ca. 44.380 Euro/Jahr) und ambulanter Unterstützung (ca. 12.617 Euro/Jahr) bei über 30.000 Euro pro Person. Durch konsequente Reformen könnten schätzungsweise 2,5 bis 4 Milliarden Euro jährlich freigesetzt werden.
Die ISL fordert daher ein sofortiges Moratorium für neue Investitionen in Förderschulen, Werkstätten und Heime, die Entwicklung verbindlicher Transformationspläne mit messbaren Zielen sowie die konsequente Umschichtung der Mittel in inklusive Bildung, Jobcoaching für den ersten Arbeitsmarkt und gemeindenahe Assistenzleistungen. Zentral sei zudem die vollständige Beteiligung von Menschen mit Behinderungen und ihren Organisationen bei allen Reformschritten.
Koritz abschließend: „Eine echte Sozialstaatsreform muss bei der Überwindung von Sonderstrukturen ansetzen. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist kein Wunschkatalog, sondern geltendes Recht. 16 Jahre nach ihrer Ratifizierung ist es höchste Zeit, dass Deutschland seinen menschenrechtlichen Verpflichtungen nachkommt. Die Mittel sind da – es fehlt nur der politische Wille zur Systemveränderung.“
Thema: Informationen | 18.11.2025 |