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07.08.2025

Genomisches Neugeborenen-Screening in Deutschland: Rahmenbedingungen, Herausforderungen und ethische Implikationen

Ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Forschungsprojekt hat seit 2022 an der Universität Heidelberg Rahmenbedingungen für ein mögliches genomisches Neugeborenen-Screening in Deutschland erarbeitet. Ziel des Projekts „NEW_LIVES“ ist es, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass künftig das gesamte Genom von Neugeborenen auf genetisch bedingte Erkrankungen untersucht werden kann. Ein solches Screening würde eine frühzeitige Diagnose ermöglichen und damit die Chancen auf eine rechtzeitige Behandlung verbessern.

In mehreren europäischen Ländern sind genetische Tests bei Neugeborenen bereits Bestandteil der medizinischen Versorgung. International existieren derzeit 14 Projekte, die sich mit der Sequenzierung von Neugeborenen beschäftigen, wie die Internationale Konferenz über die Sequenzierung Neugeborener (ICoNS) dokumentiert. Acht dieser Projekte befinden sich bereits in der Pilotphase. In Großbritannien etwa wurde 2022 eine Studie mit 100.000 Neugeborenen gestartet. Obwohl diese noch nicht abgeschlossen ist, hat die britische Regierung im Juni 2025 eine Ausweitung des Programms angekündigt.

Die Einführung eines umfassenden genomischen Screenings wirft neue medizinethische und datenschutzrechtliche Fragen auf. Genetische Daten enthalten Informationen über Verwandtschaftsverhältnisse, Krankheitsrisiken und andere persönliche Merkmale. Sie sind nicht anonymisierbar und dauerhaft unveränderlich. Aufgrund dieser Eigenschaften gelten sie in der Europäischen Union und in Deutschland als besonders schützenswert.

Eine zentrale Herausforderung besteht in der Frage, wie mit der langfristigen Speicherung und möglichen Weiterverwendung dieser Daten umgegangen werden soll. Wenn genetische Informationen in elektronische Patientenakten integriert und in den geplanten Europäischen Gesundheitsdatenraum eingebunden werden, könnten sie auch für Forschungszwecke oder andere Anwendungen genutzt werden. Dies würde faktisch eine nationale DNA-Datenbank schaffen, deren Zugriffsmöglichkeiten über den medizinischen Kontext hinausreichen könnten.

Ein aktueller Fall aus Griechenland verdeutlicht die Komplexität solcher Vorhaben. Dort wurde bekannt, dass zwei private Unternehmen im Rahmen eines Pilotprojekts Zugriff auf die DNA-Daten von 100.000 Neugeborenen erhalten sollten. Die Vereinbarung sah vor, dass die Unternehmen die Kosten der Sequenzierung übernehmen und im Gegenzug Eigentümer der Daten werden. Sicherheitsvorkehrungen, Anforderungen an die elterliche Einwilligung oder Widerrufsrechte waren nicht vorgesehen. Journalistische Recherchen ergaben zudem, dass etwa die Hälfte der von ICoNS gelisteten Projekte nicht von Ethikkomitees geprüft oder genehmigt worden waren.

Das Projekt NEW_LIVES in Deutschland legt besonderen Wert auf die ethische Begleitung. Ein Empfehlungspapier beschreibt Kriterien für die Auswahl der zu untersuchenden Erkrankungen sowie Anforderungen an die Qualität der informierten Einwilligung durch die Sorgeberechtigten. Auch die Möglichkeit einer Sekundärnutzung der Daten wird thematisiert, wobei eine gesonderte Einwilligung vorgesehen ist. Der Gesetzgeber wird in diesem Zusammenhang aufgefordert, Schutzmechanismen gegen Diskriminierung durch Arbeitgeber oder Versicherungen sicherzustellen.

Ein weiterer Aspekt betrifft die rechtliche Reichweite des Gendiagnostikgesetzes. Dieses schützt genetische Daten im medizinischen Kontext, greift jedoch nicht mehr, wenn die Daten für Forschungszwecke verwendet werden. Sollten die Informationen in die elektronische Patientenakte aufgenommen werden, könnten sie auch von pharmazeutischen Unternehmen genutzt werden. Die Frage, ob eine umfassende Aufklärung der Eltern alle potenziellen Konsequenzen abdecken kann, bleibt offen. Zudem stellt sich die grundsätzliche Problematik, dass die betroffene Person – das Neugeborene – selbst keine Einwilligung geben kann.

Neben individuellen Auswirkungen sind auch gesellschaftliche Implikationen zu berücksichtigen. In anderen Ländern, etwa den USA, werden genetische Daten aus kommerziellen Datenbanken oder medizinischen Biobanken für polizeiliche Ermittlungen genutzt. In autoritären Staaten wie China dienen sie der Überwachung bestimmter Bevölkerungsgruppen. In Deutschland wird diskutiert, welche Folgen eine flächendeckende Erhebung genetischer Daten in einem veränderten politischen Umfeld haben könnte. Historische Erfahrungen zeigen, dass personenbezogene Informationen missbraucht werden können.

Die Diskussion um ein genomisches Neugeborenen-Screening berührt daher nicht nur medizinische und technische Fragen, sondern auch rechtliche, ethische und gesellschaftspolitische Aspekte. Eine sorgfältige Abwägung und breite öffentliche Debatte erscheinen vor diesem Hintergrund notwendig.

Thema: Informationen Gesundheit Familie & Kind | 07.08.2025 |

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